Die Faszination der hl. Hildegard
Auszug aus dem Vortrag von Sr. Hiltrud Gutjahr OSB, Abtei St. Hildegard, Eibingen, anlässlich der Hildegard-Tagung in Bingen am 23. August 2008
Hildegard von Bingen, eine faszinierende Frau, aus dem 12. Jahrhundert, zieht heute Menschen in ihren Bann in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Botschaft. Liegt das Faszinierende in den Gegensätzen, in die Hildegard in ihrer Zeit hineingeboren war? In einer Zeit, da der Frau nach allen Seiten enge Grenzen gezogen waren, in der sie in der Öffentlichkeit zu schweigen hatte, warf sie die Schranken um und tat das, was dem Manne vorbehalten war. Sie schrieb, verkündete, gründete Klöster, heilte, reformierte den hohen und niedrigen Klerus sowie zahlreich Mönchs – und Nonnenkonvente, unternahm Predigtreisen.
Bewundernd und verwundert fragen wir uns: worin besteht das Geheimnis dieser faszinierenden Frau?
Im Lied über das edelste Grün, das die hl. Hildegard für die Mutter Jesu, für Maria, geschrieben hat, finden wir eine Aussage, die ich im Blick auf Hildegard voranstellen möchte
O edelstes Grün – (ich wage jetzt zu sagen:) o Hildegard,
Du bist umfangen in liebender Umarmung von den Geheimnissen Gottes
Hildegard ist umfangen in liebender Umarmung von den Geheimnissen Gottes in der Gabe ihrer Schau. Von Kindheit an ist sie von dem „Faszinosum Gott“ ergriffen, „der ein kleines Zelt berührt hat, damit es Wunder schaue“ (Hildegard an den Papst)…
Das Geheimnis ihrer Sehergabe
Über das geheimnisvolle Phänomen ihrer Sehergabe hat Hildegard selbst wiederholt Aussagen gemacht…
Die Faszination der hl. Hildegard wird aufgezeigt
I. an bestimmten Ereignissen in ihrem Leben
II. an verschiedenen Aussagen in ihren Visionsschriften.
III. Faszination Hildegards für den heutigen Menschen
I. Bestimmte Ereignisse ihres Lebens
Hildegards Abnabelung von den Mönchen des Disibodenbergs
Hildegard berichtet: „Einstmals sah ich wegen einer Verdunkelung meiner Augen kein Licht, und ich wurde von so großer körperlicher Schwere niedergedrückt, dass ich nicht aufgehoben werden konnte. Das habe ich deshalb erlitten, weil ich eine Schau, die mir gezeigt wurde, nicht mitgeteilt hatte. Ich sollte von der Stätte, an der ich Gott dargebracht war, mit meinen Nonnen zu einer anderen gehen…
Hildegard schuf die Rechtsgrundlage für ihr Kloster.
„Die gemachten Schenkungen gehören weder dir, noch deinen Brüdern“, hatte die Seherin Abt Kuno vorgeworfen… Von den Mönchen hatte Hildegard sich ganz frei gemacht. Das Rupertsberger Kloster war allein der Schutzherrschaft des Erzbischofs von Mainz unterstellt…
Als Abt Helenger, Kunos Nachfolger, den Schwestern ihren Seelsorger Volmar, Hildegards treuen Berater, wegnehmen wollte, brachen die Gegensätze erneut auf. Hildegard verhandelte noch einmal und ließ die Rechtsbeziehungen zwischen beiden Klöstern urkundlich festlegen: Das Kloster Disibodenberg hatte dem Kloster Rupertsberg einen für die Stelle des Propstes geeigneten Mönch zur Verfügung zu stellen, und zwar nach der Wahl der Nonnen.
Hildegards Reisen – Standpauke für den Klerus
Aus Hildegard Korrespondenz können wir uns ihre Reisen zusammensuchen. In ihrer Vita (Lebensbeschreibung aus dem 12.Jahrhundert) werden nur die Orte ihrer Verkündigungsarbeit aufgelistet. Es heißt: „Hildegard wurde vom göttlichen Geist nicht nur angetrieben, sondern genötigt, nach Köln, Trier, Metz, Würzburg, Bamberg zu gehen und der Geistlichkeit und dem Volk den Willen Gottes kundzutun. Auch auf dem Disibodenberg, in Siegburg, Eberbach, Hirsau, Zwiefalten, Maulbronn, Rodenkirchen, Kitzingen, Krauftal, Hördt, Höningen, Werden, Andernach, Marienberg, Klause und Winkel verkündete sie, was zum Heile der Seelen gereichte.“…
Nicht das eigene Wollen und Begehren ist also Triebfeder dieses unerhörten Handelns, sondern die innere Verpflichtung gegenüber dem Auftrag und der Sendung Gottes.
In ihrer Trierer Pfingstpredigt 1160 tadelte Hildegard die Verweltlichung und Trägheit des Klerus: Die Magister und Prälaten haben „die Gerechtigkeit Gottes verlassen und schlafen“…
Hildegard ist bei aller Kritik keine Umstürzlerin, sondern Realistin…
Hildegard nahm auch Stellung zu der bewegten Politik ihrer Zeit. Als Kaiser Friedrich I. Gegenpäpste aufstellte, was zu einem 18-jährigen Schisma führte, bezieht die Rupertsberger Äbtissin deutliche Gegenstellung, obwohl sie einen Schutzbrief für ihr Kloster vom Kaiser erhalten hatte…
Passt dieses starke Selbstvertrauen Hildegards zu der Aussage von der Feder, (in der sich Hildegard sieht), die kein Eigengewicht hat und nur vom Wind bewegt ist?
Ja, Hildegard ist vom Geist Gottes bewegt, als Posaune Gottes!
Hildegard und das Interdikt
Hildegards ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und Wahrheit kommt im Alter, zwei Jahre vor ihrem Tod, zum Durchbruch. Sehr zu bewundern ist, wie Hildegard die Kirchenstrafe des Interdikts ertrug und um ihr Recht kämpfte. Es war wohl die schwerste geistliche und seelische Belastung, die Hildegard gemeinsam mit ihren Schwestern, dem ganzen Kloster, zu tragen hatte…
Hildegard hatte in den Ereignissen Zivilcourage, d. h. Gehorsam gegen Gott, Gehorsam gegen die Kirche und Kampf gegen Ungerechtigkeit als starke Frau in der Männerkirche. Gehorsam und Kampf aus der Erkenntnis, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Darin ist sie für mich faszinierend und ein Vorbild…
II. Eine faszinierende Botschaft vom Menschen und der Schöpfung
In den verschiedenen Aussagen ihrer Visionsschriften
„Als Gott den Menschen anblickte, gefiel er ihm sehr.“
Hat doch der Schöpfer sein Geschöpf dadurch geschmückt, dass er ihm seine große Liebe schenkte…
Hildegards Botschaft ist zuallererst eine Botschaft vom ganz heilen Leben, das Gott selbst ist, aus dem das Leben der Schöpfung fließt.
„Der Mensch ist nämlich das vollkommene Wunderwerk Gottes, weil Gott durch ihn erkannt wird und weil Gott alle Geschöpfe seinetwegen erschaffen hat. Ihm hat Er mit dem Kuss der wahren Liebe gestattet, Ihn durch seine Vernunft zu preisen und zu loben.“(LDO)
Wenn der Mensch rechte Werke tut, haben auch die Elemente ihre richtige Bahn. Wenn er aber ungerechte Werke vollbringt, dann lenkt er die Elemente mit strafender Bedrängnis auf sich zu. (LDO S. 233)…
Aus dem Buch der Lebensverdienste – Liber vitae meritorum (LVM)
Ich möchte zwei Bilder aus den Tugend- und Lastergestalten herausgreifen, die mich besonders faszinieren.
Dem Laster der Herzenshärte stellt Hildegard sehr anschaulich die Tugendkraft der Barmherzigkeit gegenüber… Wir Menschen sollen füreinander in der dienenden Haltung der Barmherzigkeit wie ein liebliches Heilkraut sein.
Dem Laster des Schlemmers steht die Tugend der Enthaltsamkeit gegenüber.(Klingt zunächst wenig attraktiv!)
Hier geht es nicht zuerst um die Beziehung und Haltung zum anderen Menschen, sondern um unsere eigene Lebensführung…
Die Zusammenschau von Schöpfung und Heilsgeschichte…
III. Was fasziniert die Menschen an Hildegard von Bingen?
Sie ist ein hörender und gehorsamer Mensch, ein lebendiger Mensch
Am Menschen Hildegard fasziniert besonders ihre Predigttätigkeit mit den Reisen, gerade auch als Frau im Mittelalter…
Sie ist eine vom Geist Gottes Ergriffene, Durchströmte und Durchformte in der Gebrechlichkeit und Begrenzung ihres Leibes.
Ihr Leben als wahrer demütiger Mensch ist Lob für Gott heute und in alle Ewigkeit…