Hildegards Heilkunde aus der Sicht des Medizinhistorikers
Vortrag von Prof. Dr. phil, Dr. med., Dr. hc Gundolf Keil, em. Ordinarius für Geschichte der Medizin, Universität Würzburg
bei der Tagung der Internationalen Gesellschaft Hildegard von Bingen am 23. August 2008 in Bingen
Wir werden uns die Frage stellen, inwieweit die heilige Hildegard originär ist, also durch ihre Visionen und durch ihre Einblicke so etwas wie eine visionäre Originalität für sich beanspruchen kann und inwieweit es berechtigt ist zu sagen, was die amerikanische Mediävistik und Philosophie von ihr sagt – ich zitiere Peter Dronke, Charles Burnett und andere – dass sie eine europäische Größe, eine geistige Größe des Hochmittelalters ist…
Die Vorgaben der antiken Medizin
Wir versuchen also zunächst einmal sie in dasjenige einzuordnen, was die Medizin vorgegeben hat…
Und was steht bei der heiligen Hildegard?
Wir wechseln in das 12. Jahrhundert und sind jetzt schon in einer sehr modernen Zeit, bei unserer heiligen Hildegard. Ihre Seinsauffassung und damit auch ihre Heilkunde ist eine Heilkunde, die ganz anders ist, als wir uns das vorstellen können entsprechend unserer Auffassung von Gesundheit und von Krankheit. Denn Hildegard versteht selbstverständlich unsere Krankheit und Gesundheit in christlicher Sicht als etwas ganz anderes, als wir uns das zunächst einmal vor Augen führen können…
Die Mäßigung in der göttlichen Ordnung
Die Lebensregeln
Wie ordnet sich der Mensch, der gesunde Mensch in dieses Regulativ, in diese entsprechenden natürlich vorgegebenen Bedingungen ein? …
Konversation und Konversion
Der Mensch wirkt nach außen durch die Konversation… So wie der Mensch sich nach außen wendet, wendet er sich ständig auch nach innen. Das ist die Konversion, die Wende zu Gott, der einen umgibt, der einem die Ordnung vorgegeben hat, der ständig bei einem ist, der einen nie verlässt, keine Minute…
Der Mensch: Das volle Werk Gottes
Nun gibt es unterschiedliche Werke Gottes, die verschieden ausgeprägt sind, die sich im Mineralischen, im Bewegten (Pflanzlichen), im Tierischen, im Menschen niederschlagen, und der Mensch ist ein in seiner Vollendung erfülltes, volles Werk Gottes, ein „plenum opus Dei“…
Vom Urzustand zum Missstand, zur Krankheit
Dieser Mensch kennt einen Urzustand, eine Konstitution, sowohl was seine somatische (körperliche) als auch seine seelische Beschaffenheit betrifft …
Die schlimmste Krankheit
… Das schlimmste aller Übel äußert sich nicht darin, dass der Mensch krank ist, sondern dass er nicht die Barmherzigkeit für seinen anderen, für die unbelebte Kreatur, für die lebende Kreatur, für sein menschliches Umfeld hat…
Die Grünkraft
Die Grünkraft ist es also, die die Gesundheit wiederherstellt, die Grünkraft aus der Erde, eine geerdete Spiritualität. Diese Konzeption ist wichtig…
Wie sieht Hildegard den neuen Menschen?
Und nun wollen wir uns anschauen, wie sich in diesem Bereich der Weg zu einem neuen Menschen einordnen lässt…
Die Geschlechtlichkeit – der Sexus
… Adam hat eine Gestalt gesehen, eine Gestalt von beachtlicher Schönheit, und diese Gestalt ist aus seiner Liebe zu ihr Frau geworden. Nichts dergleichen von einer Rippe, die als Knochen aus dem Leibe herausgeschnitten wird. Hildegard wendet sich da also gegen den Schöpfungsbericht: Die Frau ist ein Geschöpf der Liebe. Sie ist nicht aus der harten Substanz, sondern aus der weichen Substanz, dem Fleische des Menschen entstanden, was ihre Besonderheit darstellt…
Die Zeugungsfähigkeit der Frau
Die Zeugungsfähigkeit der Frau ist schon verfügbar vor dem 20. Lebensjahr, aber Hildegard geht doch davon aus, dass sinnvoller Weise erst ab dem 20. Lebensjahr gezeugt werden sollte. Die Zeugungsfähigkeit bleibt dann erhalten bis zum 50. und in Ausnahmefällen bis zum 80. Lebensjahr…
Anschließende Diskussion
Wie steht Hildegard zur leiblichen Gesundheit?
„Gesundheit soll dazu dienen, dass der Gesund-Gemachte die Wege zu Gott weiter beschreiten kann, um seiner entsprechenden Vollendung auch hier im Irdischen näher zu kommen.“
Welche Bedeutung hat Hildegards Heilkunde?
„Prof. Schipperges meinte, wenn jemand da sei, der behaupte, Hildegard zu kennen, dann dürfe man ihm nicht trauen, weil man das ganze 21. Jahrhundert brauche, um ihr näher zu kommen. Es wird auch so sein, weil ihre medizin-übergreifende Aktualität, die in alle Lebensbereiche hineinführenden Weisungen und Strukturierungen so bedeutend sind, dass man mit ihr die Probleme der ganzen Menschheit lösen könnte.“
Gehören die medizinischen Werke zu den originären Schriften Hildegards?
„Man darf keinen Unterschied machen zwischen den politischen und visionären Schriften und den
von Hildegard beschriebenen Heilmitteln; man darf und muss davon ausgehen, dass die medizinischen Schriften zum zentralen eigenen Schrifttum der heiligen Hildegard gehören.“
Welchen Stellenwert nimmt die Hildegard-Heilkunde innerhalb der anderen Heilweisen ein?
„Die Hildegard-Medizin ist in einem extrem hohen Grade eine christliche Medizin, wie sie mir andernorts in einer solchen Vollendung nicht begegnet ist.“