Tugenden und Laster bei der hl. Hildegard von Bingen
Hildegard Strickerschmidt, Bingen
In letzter Zeit wächst das Interesse an den „Tugenden und Lastern“ in der Schau der hl. Hildegard von Bingen, aber ebenso in der allgemeinen Wertediskussion. Sie hat es aufgeschrieben in ihrem Liber vitae meritorum (LVM) – Buch der Lebensverdienste – in den Jahren 1158 – 1163 auf dem Rupertsberg bei Bingen…
In der „Psychotherapie“ von Dr. Wighard Strehlow werden Texte der heiligen Hildegard über Tugenden und Laster verwendet. Diese werden allerdings in Zusammenhang gebracht mit modernen Erkenntnissen wie z. B. den Headschen Zonen, so dass die Tugenden und Laster verschiedenen Körperregionen zugeordnet werden. Des weiteren werden Verbindungen hergestellt zu den Lebensaltern und zu Edelsteinen. Das sind Interpretationen, die sich nicht mit Hildegards Erkenntnissen belegen lassen…
Tugenden
… Tugend kommt von taugen, lebenstauglich sein. Der Mensch ist in Übereinstimmung mit sich selbst, weil er das tut, was er als richtig erkannt hat… Bei Hildegard haben diese Tugenden weit mehr Bedeutung, als nur einen Sittenkodex zu erfüllen: Es sind geistige Lebenskräfte, die einen unmittelbaren Einfluss auf unseren Organismus ausüben, ihn aufbauen, den Menschen heil und blühend an Leib und Seele machen…
Laster
Die Gegenspieler der Tugenden sind die Laster. Diese Negativhaltungen sind es in Wirklichkeit, die den Menschen belasten, die für ihn eine Last darstellen, nicht, wie es allgemein angenommen wird, die Tugenden. Im Wort Laster steckt die „Last“, die der Mensch mit sich herumschleppen muss…
Die Schau der hl. Hildegard
Der geistige Kampf zwischen den Tugenden als Gotteskräften und den Lastern als finstere geistige Kräfte spielt sich in der Schau Hildegards wie ein Drama ab, das kosmische Auswirkungen hat…
Einzelne Beispiele von Gegenüberstellungen
Laster |
Tugend |
Verhärtung, die egoistisch nur auf sich selbst bezogen ist |
Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft |
Zorn, der aggressiv die Mitmenschen bedroht |
Geduld, sanftmütiger Sinn |
Verbitterung, die sich vor allen verschließt. |
Mitfühlen, Freigebigkeit |
Streitsucht, die andere und sich selbst verletzt |
Friedfertigkeit, Wohlwollen |
Schwermut, die nur schwarz sieht, das Leben verneint |
Seligkeit, Hoffnung auf Gott |
Neid, der jedes gute Korn zernagt |
Nächstenliebe, freut sich mit anderen |
Sorge um das Irdische, nur um materielle Dinge |
Sehnsucht nach dem Himmlischen |
Laster bedrohen das Leben
Mich erschrecken diese Bilder und sagen mehr als alle Worte, wie lebensbedrohlich die Laster sind. Aber ebenso erschreckend ist die Tatsache, dass es äußerst schwierig ist, selbst seinen eigenen Zustand zu erkennen…
Wie weit ist der Weg von der Hoffnungslosigkeit der Schwermut hin zum zuversichtlichen Vertrauen auf Gott! Manchmal ist es, als ob wir uns wie ein Wurm in die Dunkelheit hineinwühlen und das Licht gar nicht mehr ertragen könnten…